Blüten des Lebens

Lebens|t|räume Magazin – Ausgabe Juni 2024

In dieser Ausgabe:

Blüten des Lebens
Dr. Ruediger Dahlke: Vom Sterben und Leben nach dem Leben
Lisa-Marie Worch: Brief an den Tod
Sylvester Walch: Dimension des Sterbens

Hilfe im Leben
Dr. Folker Meißner: Mit dem Heilungs-ICE unterwegs
Kurt Fenkart: Krafttiere – Helfer aus einer anderen Welt

…und vieles mehr

 

Wenn Sie mir schreiben möchten:
Wolfgang Maiworm, E-Mail: wolfgang@lebens-t-raeume.de, Website: www.wolfgangmaiworm.de

Liebe Leserinnen und Leser,

mitten im Frühling Abschied nehmen, mitten im Leben das Sterben, inmitten der Freude das Leid. – Macht Sie das traurig? Natürlich. Sein und Nicht-Sein erzeugen einander – und so ist die Trauer mit Freude verbunden und das Leben ist eine Hingabe an das unvermeidliche Sterben.

Meine Mutter starb am 18. September 1994 in meinen Armen. Sie hatte Krebs. Drei Tage vor ihrem Heimgang bat sie nach Tagen des Schweigens mit letzter Kraft darum, dass sich ihre Kinder, deren Partner und Partnerinnen und dazu ihre Enkelkinder in ihrem Wohnzimmer versammeln sollten. Mich bat sie, die Magnum-Flasche Champagner, die ich ihr zu ihrem Geburtstag am 2. September schenkte, zu öffnen. Sie ließ sich aus dem Bett tragen, nahm wie wir alle ein gefülltes Glas, schaute jeden der achtzehn Personen, die sich ihr zuwandten, intensiv an, prostete ihnen schließlich wortlos zu – und ließ sich wieder zurück ins Bett tragen. Sie sprach nicht mehr.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. – Nie war mir das mehr bewusst. Damals unausgesprochen. Und heute fällt mir das Buch von Elisabeth Kübler-Ross „Leben bis wir Abschied nehmen“ zu. Ich schlage es auf – und finde die Zeilen, die ich meiner Mutter am 2. September 1983, also elf Jahre vor ihrem Tod, in dieses Buch schrieb. Ich spreche es aus, lasse Sie teilhaben. Pars pro toto.

„Liebe Mama, jede durch den Tod verlangte Umwandlung beinhaltet eine Krise, doch so wie die im Herbst gefallenen Blätter nach einem Gärungsprozess über Winter, der Zeit

der Ruhe und inneren Sammlung, zum Dung des im Frühling aufkeimenden Samenkorns werden, so hat der Tod von Papa die Möglichkeit für Dich bereitet, Dich zu einer Art Wiedergeburt zu führen (Papa starb am 2. März 1983. Mama hat ihn als Krankenschwester im Lazarett kennengelernt und ihn dann, weil er schwerkriegsbeschädigt war, zeitlebens anziehen und ausziehen wollen/müssen – im direkten und übertragenen Sinn). – Auferstehung bedingt die vorangegangene Kreuzigung. –

Das Leiden ist der Schemel unserer Göttlichkeit. Wenn wir alle dies begreifen, kann Leiden nur mit Auferstehung enden. Denn ein Mensch zu sein, bedeutet, ununterbrochen mehr von dem zu sein, was man ist. Bis sich Menschlichkeit mit Göttlichkeit mischt.

Als ich mich letzte Woche mit Oma über das Sterben unterhielt, gab sie ein Zeugnis von dem, was ich meine. Sie sagte, es sei für sie gleichwertig, ob sie nun sterbe oder nicht. Das bedeutet, sie hat losgelassen, hat sich dem göttlichen Willen anvertraut – und wird aus dieser Kraft neu gespeist. Eine Maxime östlicher Weisheitslehre heißt: Nehme Dich wichtig, ohne Dich wichtig zu nehmen!

Nachdem ich den Sinn dieses Paradoxons in meinem Leben durch das Sterben vieler kleiner Tode erspürt habe, weiß ich, dass ich gerade Dich als Mutter gebraucht habe, um an Dir zu lernen, was es heißt, demütig zu dienen. Ich danke Dir dafür. Nun bin ich – glaube ich – innerlich so weit gereift, dass ich Dich immer wieder in mir entdecken kann – und so bin ich, nach der Abnabelung wieder durch eine unsichtbare Nabelschnur mit Dir, meiner

Herkunft, meinen Wurzeln verbunden. Jetzt erst werde ich die wahre Freiheit kennenlernen, durch die Einsicht in die Notwendigkeit. – So wie es keinen Zufall gibt, dass gerade Du meine Mutter bist, gibt es auch nicht den Zufall, dass Du gerade mich als Sohn bekommen hast. Wir sind alle miteinander auf dieser Welt, um aneinander zu wachsen. Jeder soll dem andern seine hervorragende Einzigartigkeit spiegeln, so lange, bis der andere das Gespiegelte wieder als Teil seines wahren Selbst annehmen kann. So bin ich wohl berufen, Dir zu spiegeln, dass Du Dich sehr wichtig nehmen sollst, dass Du mutig zu Deinen Fähigkeiten und Schwächen stehen sollst und dich wirklich nur da anpasst, wo es Dein Selbst nicht verbiegt, behindert, einengt oder vernichtet. Nehme Dich wichtig, ……!“

Meine Erkenntnis heute (10. Mai 2024):
Ich lernte, intensiv zu leben, weil Du sterben musstest.

Ich lebe. Ich liebe.
Herzlichst, Wolfgang Maiworm